So sehr sich der schillernde Partyalkohol von Barfußgäßchen bis Westwerk auf den Aushängeschildern des touristischen Leipzigs breitmacht, so sehr gehören auch sie zum Stadtbild: kleine Grüppchen von Trinkern, die sich an den verschiedensten Ecken treffen. Während die einen allabendlich den Feierabend begießen, trinken sich die anderen Körper, Geist und Seele kaputt. Während die einen ihre bürgerliche Mitte behaupten, befinden sich die anderen seit Jahren im sozialen Abseits. Wer ihnen zuhört, wird feststellen, dass es den Standard-Suffi nicht gibt. Denn unter jedem Kronkorken steckt eine eigene Geschichte.
Montag, 13 Uhr. Lindenauer Markt. Die Flasche Pfeffi steht geöffnet in Griffweite; fast leer. Eine Handvoll Leute sitzt auf Bänken um den Tisch herum. Sie kommen öfter her. »Nicht jeden Tag«, betont ein Mann mit Bart und schmutzigem Basecap. Mitten auf dem Markt treffen sie sich, keine hundert Meter vom Kaufland entfernt. »Sonntags sitzen wir da hinten«, er zeigt auf eine andere Sitzgruppe. »Einraumwohnung nennen wir die.« Die Einraumwohnung befindet sich in der Nähe eines Blumenladens, auf dessen Besitzer sie nicht gut zu sprechen sind. Von »Genitalien, die Kindern gezeigt wurden« ist die Rede. Und von einem Vorfall, dessentwegen Mike jetzt eine Anzeige hat. Mike ist oft hier und gibt zu: »Ich hab den Bullen ja gesagt, dass ich dem eine geklatscht habe.« Dass die Polizei dann gleich den ganzen Lindenauer Markt abgesperrt habe, erzählt er auch. »Wenn die meinen Namen hören, fordern die erst mal Verstärkung an.« Denn einmal sei er so ausgerastet, »da brauchten die nicht mehr mit einem Krankenwagen zu kommen, da konnten die gleich einen schwarzen Wagen schicken«. Mehr will er dazu nicht sagen, die Leute würden immer so geschockt reagieren. »Ich bin eigentlich ein ganz lieber Kerl, aber wenn ich einmal in Rage komme, dann unterscheide ich nicht mehr zwischen Freund und Feind.« Heute gerät er nicht in Rage. Seit zehn Jahren war er nicht mehr im Knast. Das erste Mal war in den Achtzigern. Wegen Republikflucht. Sein Vater wollte mit dem damals 15-Jährigen im Schlauchboot über die Ostsee. Sie wurden inhaftiert, Mike kam nach Bautzen und Torgau. Sein Vater starb im Gefängnis. »Mehrere von uns hier sind Knackis.« Weiterlesen →